Die gesetzlichen Krankenkassen haben viel Geld auf der hohen Kante. Von Verpflichtungen in Milliardenhöhe ist kaum die Rede.

Patienten, Ärzte, Apotheker und Krankenhausverwaltungen klagen immer wieder über die gesetzlichen Krankenkassen (GKV). Versicherte kritisieren die Selbstbeteiligung, Ärzte verlangen höhere Honorare, und Apotheker und Krankenhäuser wollen ebenfalls mehr Geld. Die Forderungen werden in den nächsten Wochen wieder lauter vorgetragen werden, denn den Kassen, den meisten jedenfalls, geht es finanziell scheinbar so gut wie nie zuvor. Einzelne haben sogar Finanzreserven, die erheblich über die gesetzlich zulässige Obergrenze von 1,5 Monatsausgaben hinausgehen. Auch der vom Bundesversicherungsamt (BVA) als Sondervermögen verwaltete Gesundheitsfonds, der die jetzt einheitlichen Beiträge einzieht und dann den größten Teil davon an die einzelnen Kassen verteilt, hat deutlich mehr als die erforderliche Liquiditätsreserve. Insgesamt werden über 30 Milliarden Euro gebunkert. Das Geld müsse – nach Vorschrift – den Versicherten in Form von Prämien oder Leistungsverbesserungen zugutekommen, verlangen die Politiker.

Von den Verbindlichkeiten der Kassen in Milliardenhöhe ist nicht die Rede. Die wurden schon einmal übersehen, 2006, als die Gesundheitspolitiker der großen Koalition das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der GKV konzipierten. Alle Kassen sollten insolvenzfähig werden. So stand es im Gesetzentwurf. Dass dann gleich mehrere der damals noch 17 Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) ihre Zahlungsunfähigkeit hätten anmelden müssen, war den Gesundheitsexperten offenbar nicht bekannt. Es musste ihnen erst erklärt werden, dass in der Bilanz Pensionsverpflichtungen ausgewiesen werden müssen, und die liegen nach Schätzungen von Fachleuten bei zehn Milliarden Euro. Wahrscheinlich sind sie sogar noch höher.

Ursache für die hohen Verpflichtungen sind die Dienstordnungsangestellten (DO-Angestellte). Diesen arbeitsrechtlichen Anachronismus der deutschen Sozialversicherung gibt es bei den Berufsgenossenschaften und gesetzlichen Krankenversicherungen. Es sind Mitarbeiter, die zwar in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis stehen, für die aber beamtenrechtliche Grundsätze gelten. Ihr Gehalt entspricht der Besoldung eines Beamten, sie unterliegen nicht der allgemeinen Versicherungspflicht, zahlen also keine Beiträge zur gesetzlichen Renten-, Kranken-, Pflege- und
Arbeitslosenversicherung. DO-Angestellte sind beihilfeberechtigt und darum privat krankenversichert. Seit 1993 dürfen die Kassen keine DO-Verträge mehr abschließen. Die Statistik des Bundesgesundheitsministeriums weist für Ende 2011 noch 10.120 aktive DO-Angestellte aus, die meisten in den alten Bundesländern. In den neuen sind es lediglich gut 300. Die Zahl der Pensionäre und Hinterbliebenen ist etwa gleich hoch wie die der Aktiven.

Um der angestrebten Insolvenzfähigkeit der Krankenkassen nicht gleich die wirkliche Zahlungsunfähigkeit folgen zu lassen, einigten sich die Politiker in der nächtlichen Sitzung  zum 12. Januar 2007 darauf, den Gesetzentwurf zu ändern, Einzelheiten über den Aufbau des Deckungskapitals später zu regeln und so einige Kassen vor dem Aus zu bewahren. Erst im Dezember 2008 wurde den gesetzlichen Krankenkassen auferlegt, „für Versorgungszusagen, die eine direkte Einstandspflicht nach Paragraf 1 Absatz 1 Satz 3 BetrAVG auslösen, sowie für ihre Beihilfeverpflichtungen durch mindestens jährliche Zuführungen vom 1. Januar 2010 an bis spätestens zum 31. Dezember 2049 ein wertgleiches Deckungskapital zu bilden, mit dem der voraussichtliche Barwert dieser Verpflichtungen an diesem Tag vollständig ausfinanziert wird“. Für den Aufbau des Deckungskapitals sind also viele Jahre Zeit. Einige mit weniger DO-Angestellten haben das Soll bereits erfüllt. Andere würden jetzt gerne nachziehen, dürfen ihre Überschüsse jedoch nur für die Leistungen verwenden. Finanziert werden die Rückstellungen aus den Verwaltungskosten, die vom Gesundheitsfonds zugewiesen werden. Diese sind limitiert. Gesetzlich war festgelegt, dass sie in den Jahren 2011 und 2012 nicht höher sein durften als 2010.

Das Bundesversicherungsamt, nicht gerade erfahren in der komplexen betrieblichen Altersversorgung, hat einige Zeit gebraucht, um die von den Kassen einzuhaltenden Vorschriften auszuarbeiten und danach laufend zu ergänzen. Gerechnet wird bislang mit einem Zinssatz von 4,25 Prozent. Anpassungen bei anhaltendem Niedrigzins sind möglich. Über die Anlage der Rückstellungen entscheidet jede Kasse für sich. Dabei steht die Sicherheit an erster Stelle. Von den 134 gesetzlichen Kassen müssen 55 den Aufsichtsbehörden der Länder Rede und Antwort stehen, über 79 wacht das Bundesversicherungsamt, das sehr genau prüft. Zumindest einige Länderbehörden haben dagegen nicht einmal Mathematiker, die die von den Beratungsfirmen ausgearbeiteten versicherungsmathematischen Gutachten nachvollziehen können. Die Pressestelle des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter beantwortete die Frage von dpn, ob es im zuständigen Bereich bAV-erfahrene Mathematiker gebe, mit dem lapidaren Satz: „Diese vorgelegten Gutachten werden von fachlich geschulten Mitarbeitern auf Plausibilität hin geprüft. Sollte es Unstimmigkeiten geben, wird diesen nachgegangen.“

Schwierig gestalteten sich die Verhandlungen der Kassen mit dem Pensions-Sicherungs-Verein aG. Die meisten Kassen waren der Ansicht, der Beitrittstag spiele keine Rolle. Der PSVaG müsse im Falle eines Falles auch für den Teil der Verpflichtungen einstehen, der in der Zeit vor ihrem Beitritt entstanden ist. Nach vielen Gesprächen und Erklärungen habe man sich durchgesetzt, heißt es beim PSVaG.

Die größte Last müssen die elf Allgemeinen Ortskrankenkassen schultern. Sie müssen das meiste Deckungskapital aufbringen. Ende Dezember vergangenen Jahres beschäftigten sie noch 10.150 DO-Angestellte. Das entspricht etwa 8.500 Vollzeitstellen. Dazu kommen rund 10.000 Rentner und Hinterbliebene. Außer den Rückstellungen für die Altersversorgung muss – separat ausgewiesen – Deckungskapital für die Beihilfeleistungen angesammelt werden. Wenn jeder Berechtigte nur 100 Euro pro Jahr an Beihilfe erhält, macht das bereits mehr als zwei Millionen Euro. Der Betrag liege viel höher, hat ein Insider dpn verraten. Vor allem die Rentner seien sehr teuer. Mit den Berechnungen hat der AOK-Bundesverband unter seinem Vorstandsvorsitzenden Jürgen Graalmann eines „der großen renommierten versicherungsmathematischen Dienstleistungsunternehmen im deutschen Markt beauftragt“, wie Udo Barske, der Pressesprecher des Verbandes, sagte.

Alle gesetzlichen Krankenkassen haben für ihre Tarifangestellten bAV. Pensionszusagen sind dabei die Ausnahme. Kenner behaupten, nach dem Wegfall der DO-Regelung hätten einzelne Kassen leitenden Mitarbeitern entsprechende Zusagen gemacht. Für diese muss jetzt auch Deckungskapital gebildet werden. Im Übrigen werden in erster Linie Pensionskasse, Pensionsfonds und Direktversicherung angeboten. Mehrere Kassen sind Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versorgungseinrichtung, beispielsweise der VBL. Einige sind dort inzwischen ausgeschieden und mussten zahlen. Da habe es harte Kämpfe gegeben, berichtete ein Verhandlungsteilnehmer, der seinen Namen aber nicht in der Zeitschrift lesen will. Eine Kasse habe sogar ein Gebäude verpfänden müssen, um das Geld für die Ablösung aufbringen zu können. Wie teuer der Ausstieg bei der VBL ist, zeigt das Beispiel Deutsche Lufthansa. Weil der Anteil des Bundes an der Fluggesellschaft 1994 auf unter 50 Prozent sank, musste das Unternehmen zum Ende des Jahres aus der VBL ausscheiden, und der Bund hat dann in 15 Jahresraten 1,05 Millionen DM nach Karlsruhe überwiesen.

Ein Ziel hat die Reform erreicht: Die Anzahl der Kassen ist von 221 im Jahr 2008 auf 134 Anfang 2013 zurückgegangen, vor allem durch Fusionen; geschlossen wurden nur ganz wenige. Die Fusionen – erlaubt sind auch kassenübergreifende – machen den Verwaltungen bei der betrieblichen Altersversorgung zu schaffen. Denn durch den Zusammenschluss gelten in einem Unternehmen mehrere Tarifverträge, in denen die bAV unterschiedlich geregelt ist.

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