Europas Bullen scharren mit den Hufen

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Aktien – in Gesprächen mit institutionellen Investoren ist diese Asset-Klasse angesichts von Fixed Income, Private Equity und Private Debt, Immobilien, Infrastruktur sowie anderen alternativen und illiquiden Anlageklassen nur sehr selten ein Thema. Schade eigentlich, denn immerhin machen Aktien rund ein Drittel der Allokation institutioneller Portfolios aus. Laut einer Ende 2024 erhobenen Umfrage von Natixis Investment Managers unter 500 institutionellen Investoren weltweit soll die Quote für 2025 mit 36,7 Prozent hoch bleiben. Warum auch nicht? Weniger als 30 Prozent der Investoren weltweit rechnen der Umfrage zufolge mit einem wirtschaftlichen Abschwung. Doch vielen gibt die Rally der vergangenen beiden Jahre zu denken: Zwei Drittel der institutionellen Anleger sind der Ansicht, dass die Aktienbewertungen derzeit nicht die Fundamentaldaten widerspiegeln.

Weltweit brechen Aufwärtstrends

Dass hoch oder gar überbewertete Aktienmärkte nicht viel brauchen, um in die Knie zu gehen, ist kein Geheimnis. Und einem US-Präsidenten, dessen derart erratisches Gebaren wohl kaum einer der 500 von Natixis befragten Investoren Ende 2024 auf dem Schirm hatte, haben die Börsen erst recht nichts entgegenzusetzen. Mit den Zolldrohungen an nahezu sämtliche Handelspartner brachte er das globale Handelssystem zum Wanken und schickte die Aktienmärkte im Frühjahr 2025 in den Keller. Der MSCI World verlor von Mitte Februar bis Anfang April rund 20 Prozent. Noch härter schlug der Zollhammer auf den US-Parketts ein: Der marktbreite S&P 500 verlor 22 Prozent, der Tech-Index Nasdaq 100 brach um knapp 27 Prozent ein. Beide US-Indizes markierten in den Monaten zuvor ein Allzeithoch nach dem anderen, entsprechend hoch waren die Bewertungen – und der Einbruch. Mit etwas zeitlicher Verzögerung schwappte die Abverkaufswelle auch auf die andere Seite des Atlantiks: Der Euro STOXX 50 büßte von Ende Februar bis Anfang April 18 Prozent ein, der DAX von Mitte März bis Anfang April satte 20 Prozent. Weltweit rasselten die Kurse durch ihre gleitenden Durchschnitte hindurch, der MSCI World kämpfte noch Ende Mai mit seiner 200-Tage-Linie. Und auch die US-Börsen haben diese kürzlich erst wieder überwunden. Der Nasdaq 100 notierte rund zwei Monate unterhalb seines gleitenden Durchschnitts, der S&P 500 – abgesehen von einem kurzen Comeback Ende März – ebenfalls. Es waren die ersten massiven und länger anhaltenden Einschnitte an den weltweiten Aktienmärkten seit dem Katastrophenjahr 2022, als neben Aktien auch Anleihen einbrachen und Portfoliokorrelationen ad absurdum geführt wurden. Während damals die Notenbanken mit schnellen Zinserhöhungen für die Marktverwerfungen sorgten, reichte im Frühjahr 2025 ein US-Präsident mit seinem Social-Media-Account aus.

Bären auf dem Vormarsch

2022 konnten sich die Aktienmärkte nach einiger Zeit wieder erholen. Beim Corona-Crash im Frühjahr 2020 ging es noch schneller. Aber dieses Mal? Ein US-Präsident, der das globale Handelssystem – mithin die gesamte Globalisierung, die seit rund 30 Jahren für zunehmenden Wohlstand sorgt – zu sprengen droht? Dieses Szenario klingt nach länger anhaltenden Problemen für Unternehmen – besonders, wenn sie vom Welthandel abhängen. Sind im Frühjahr 2025 etwa die Bären aus der Winterruhe erwacht und haben die Bullen von den globalen Parketts vertrieben? Oder war es schlicht und ergreifend nur eine Korrektur nach einer langen Phase steigender Kurse und Bewertungen? Dafür rufen wir uns kurz in Erinnerung, was eigentlich einen sogenannten Bärenmarkt ausmacht. Im Allgemeinen wird er definiert als eine Marktphase, in der über einen längeren Zeitraum von mindestens zwei Monaten die Kurse stark fallen – in der Regel um 20 Prozent und mehr. Hinzu kommt ein Vertrauensverlust der Anleger – sie erwarten einen Abwärtstrend. In einer Korrekturphase hingegen sind die Kursverluste weniger stark ausgeprägt, sie ist zeitlich kürzer, und meistens ist auch kein bedeutend negatives Ereignis für die Weltwirtschaft aufgetreten. Angesichts der 20-Prozent-Verluste vieler Indizes in einem Zeitraum von mindestens zwei Monaten, die vom Ereignis „Donald Trump“ bzw. dessen Zolldrohungen – die ein eindeutig negatives Ereignis für die Weltwirtschaft darstellen – ausgelöst wurden, lässt sich rückblickend definitiv von einem Bärenmarkt im Frühjahr 2025 sprechen. Viel wichtiger aber ist: Wie geht es weiter?

Unsicherheit bleibt hoch

Zumindest zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe ist der Bärenmarkt an den wichtigen Handelsplätzen beendet. Die Indizes notieren inzwischen wieder über ihren gleitenden Durchschnitten. Aber neben den Kursen ist noch etwas gestiegen: die Unsicherheit. Denn es vergeht kaum eine Woche, in der Donald Trump nicht von neuen Zöllen spricht. Und solche Ungewissheit ist Gift für die Aktienmärkte. Grund zur Hoffnung geben allerdings die politischen Bemühungen, drohende US-Zölle abzumildern. So konnte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einem Telefonat Ende Mai Trump dazu bewegen, umfassende Zölle gegen die EU zunächst einmal aufzuschieben. Das zeigt: Die überzogenen Forderungen aus Washington lassen sich in Gesprächen häufig abmildern oder gar beseitigen. Dennoch sorgt jeder Social-Media-Post aus dem Oval Office oder aus Mar-a-Lago für Unsicherheit an den Börsen. Welche Branchen damit besser und welche schlechter klarkommen, wollte Pascal Kielkopf, Kapitalmarktanalyst bei HQ Trust, wissen. Dafür hat er die Performance von insgesamt 67 Sektoren im ersten Monat nach den großen Zollankündigungen Trumps am 2. April 2025 – dem sogenannten „Liberation Day“ – berechnet. Grundlage dafür waren die nach Börsenwert gewichteten Sektoren des MSCI ACWI in Lokalwährung. Zu den größten Verlierern zählen neben Energieausrüstern sowie Öl-, Gas- und Kraftstoffproduzenten auch Verbraucher- und Gesundheitsdienste, Tech-Hardware und Speicher, Verpackungen, Textilien, Biowissenschaft und Logistik. Sie alle notierten tief in den roten Zahlen – manche zeitweise mehr als 20 Prozent, lediglich die Gesundheitsdienste lagen zwischenzeitlich leicht im Plus. Doch es gab auch Gewinner, wie Baustoffe, Elektronikhersteller, Wasserversorger, den Konsumgüterhandel oder Bauprodukte, die eine Performance von etwa 5 bis 6 Prozent erreichten. Noch besser lief es für die Gesundheitstechnologie, Tabak sowie Bau und Ingenieurwesen. An der Spitze mit über 10 Prozent Gewinn lagen im ersten Monat nach dem „Liberation Day“ aber Software und Unterhaltung. „Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet der Unterhaltungssektor an der Spitze der Rangliste steht“, kommentiert Kielkopf die Ergebnisse. „Angetrieben wurden die Sektorindizes von Aktien wie Netflix, Nintendo, Microsoft und Philip Morris, die von den Zöllen kaum betroffen sind – oder gute Nachrichten vorlegten.“ Allerdings ging es auch für die zehn besten Sektoren nicht nur aufwärts. Einige – auch die beiden Spitzenreiter – mussten zwischenzeitliche Kursrückgänge von teilweise mehr als 10 Prozent wegstecken, was die enorme Volatilität zeigt, die von den Zolldrohungen ausgeht.

Deutsche Unternehmen: schwache Eigenkapitalausstattung

Das Analysehaus Quantic Financial Solutions hat die Auswirkungen der US-Zollpolitik speziell auf den deutschen Markt untersucht und dafür ein Zollszenario von 20 Prozent auf rund 11.500 deutsche Unternehmen angewandt. Volkswirtschaftlich würde dieses Szenario dafür sorgen, dass das deutsche BIP um 0,7 Prozent sinkt und die Inflation um 4 Prozent ansteigt. Die Umsätze der Unternehmen dürften im Durchschnitt auch mit Zöllen steigen, aber weniger stark als ohne Abgaben. Zu einem Rückgang käme es auch bei den Liquiditätsquoten, die sich aber aus Sicht der Studienautoren „überraschend stabil“ zeigten. Insgesamt sei der Rückgang bei Firmen mit hoher sowie Firmen mit niedriger Liquiditätsquote am stärksten. Weniger zuversichtlich zeigen sich die Experten hingegen bei Eigenkapital und Profitabilität: „Die generelle Eigenkapitalsituation vieler Firmen ist schon […] schwach, verschärft sich in einem 20-Prozent-Zoll-Szenario aber noch deutlich!“ Das Gleiche gelte für die Profitabilität. Spannend ist der Blick auf die einzelnen Industrien. So verhalte sich die Liquiditätsquote sehr divers: In einem Szenario ohne Zölle sind die meisten Firmen mit Aufwärtstrends in der Automobilbranche (92 Prozent), Optik und Elektronik (92 Prozent) sowie dem Handel (71 Prozent) auszumachen. Und auch in einer Welt mit 20 Prozent Zöllen liegen diese Sektoren weiter an der Spitze, die Anzahl ihrer Unternehmen mit Aufwärtstrends können sie sogar erhöhen. Doch bei Dienstleistern, dem Baugewerbe, Transport, Medien oder Konsum vergrößert sich der Anteil der Abwärtstrends. Deutlich weniger divers über die Industrien hinweg verhält sich die Eigenkapitalquote, was allerdings keinesfalls eine gute Nachricht ist. Denn sowohl ohne als auch mit Zöllen gibt es keine Branche, in der mehr als ein Viertel der Unternehmen einen Aufwärtstrend aufweisten. Mit 24 Prozent (im 20-Prozent-Zoll-Szenario) ist Optik und Elektronik am besten platziert. Nicht besser sieht es in Sachen Profitabilität aus: Lediglich Energie (96 Prozent) erreichte bei Zöllen mehrheitlich einen Aufwärtstrend. Bei allen übrigen liegt dieser Anteil bei maximal 5 Prozent.

Deutsche Aktien performen stark

Das Fazit der Studienautoren fällt entsprechend ernüchternd aus: „Unsere Studie zeigt im – zugegebenermaßen sehr schwachen – makroökonomischen Umfeld Deutschlands, dass deutsche Firmen über alle Branchen hinweg schwache Entwicklungen in der Eigenkapitalausstattung und in der Profitabilität aufweisen.“ Befriedigend bzw. ausreichend sei für die Mehrzahl der Branchen lediglich die Liquiditätssituation. „Neue und positive wirtschaftliche Impulse sind dringend geboten.“ Für Aktieninvestoren sind das keine erfreulichen Erkenntnisse, sind doch besonders Eigenkapitalquote und Profitabilität meist wichtige Faktoren bei der Titelselektion. Und dennoch läuft es rund am deutschen Aktienmarkt – nicht nur bei den Blue Chips, auch MDAX und SDAX haben das „Liberation Day“-Gap längst wieder geschlossen. Die Hoffnung auf ein besseres Marktumfeld ist unter Aktionären also vorhanden, die neue Bundesregierung dürfte ihren Teil dazu beigetragen haben. Immerhin übertrifft das Infrastrukturpaket mit seinen 500 Milliarden Euro sogar den Infrastrukturfonds zur Finanzierung der deutschen Einheit. Für Christoph Ohme, leitender Portfoliomanager deutsche Aktien bei ODDO BHF, eine einmalige Chance, vom Neustart der deutschen Wirtschaft zu profitieren. Für langfristig orientierte Investoren böten sich interessante Renditechancen. Ab 2026 dürfte das BIP steigen – und mit ihm die Unternehmensgewinne. Zudem hätten auch ausländische Investoren Deutschland und Europa auf dem Zettel, Ohme rechnet mit anhaltenden Kapitalflüssen: „Die zunehmende globale Unsicherheit, die steigende Inflation und die Abkühlung der US-Wirtschaft könnten zu einer weiteren Kapitalrotation aus den USA in die europäischen Märkte führen.“

Ist Europa jetzt am Drücker?

Europa also als sicherer (Alternativ-)Hafen für US-Aktien? Mal wieder? Diese Geschichte wurde schon häufig erzählt, der Abgesang auf den amerikanischen Aktienmarkt immer wieder angestimmt. Die Realität sang stets ein anderes Lied: Die stärkere Innovationskraft und höhere Profitabilität der US-Wirtschaft haben nach einer kurzen Korrekturphase regelmäßig dafür gesorgt, dass die dortigen Börsen ihre europäischen Pendants outperformen. Warum sollte es 2025 anders sein? Vielleicht weil Innovationskraft allein nicht ausreicht, wenn für die Umsetzung von Produktideen Teile aus aller Welt benötigt werden. Vielleicht weil die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Inland die Produkte teurer macht und den Absatz schwächt. Vielleicht weil Waren nicht mehr rund um den Globus verschifft werden können, ohne Zölle auf den Export bezahlen zu müssen. Unter diesem Umfeld leidet dann auch die Profitabilität der Unternehmen, was wiederum die Aktienkurse drückt. Vielleicht könnte Europas Zeit 2025 aber auch gekommen sein, weil es – anders als zum Beispiel während der globalen Finanzkrise – nicht nur um die Schwäche Amerikas geht, sondern auch darum, dass Europa gut aufgestellt ist. „Das Gewinnwachstum in Europa wird weiterhin durch die synchronisierte geld- und fiskalpolitische Lockerung gestützt, welche die Binnennachfrage und die Gewinne der IT- und Verteidigungsindustrie sowie des Finanzsektors ankurbeln wird“, ist Stephen Dover, Head des Franklin Templeton Institute, überzeugt. „Nach Jahren der Underperformance führen europäische Aktien 2025 die globale Aktienrendite an. Und unserer Ansicht nach werden sie diese Position so schnell nicht wieder abgeben.“

Europäische Rally ist kein Zufall

Doch auch Dover weiß um die Historie dieses Ausblicks, weshalb er die Skepsis unter Investoren verstehen kann. „Schließlich hat der breite europäische Markt (STOXX Europe 600) in den letzten 15 Jahren gegenüber seinem US-Pendant (S&P 500) in lokaler Währung um satte 296 Prozent […] unterdurchschnittlich abgeschnitten. Es braucht also entweder Mut oder Leichtsinn, um zu behaupten, dass es jetzt anders sein könnte.“ Zumindest bisher ist es 2025 aber anders. Dass der Aufschwung in Europa dennoch kein Zufall ist, zeige auch ein genauerer Blick auf Fundamentaldaten, Bewertungen und andere Faktoren. „Aus makroökonomischer Sicht profitiert Europa von mehreren zukunftsweisenden konjunkturellen Vorteilen“, so Dover. „Erstens konnte die EZB nach der niedrigen Inflation im letzten Jahr ihre geldpolitische Lockerung 2025 fortsetzen – im Gegensatz zur US-Notenbank. Zweitens hat die Kombination aus der Bedrohung der europäischen Souveränität durch Russland und der Ambivalenz der USA in Fragen der globalen Sicherheit die europäische Fiskalpolitik zum Handeln veranlasst“, fährt Dover fort. „Die diesjährigen Wahlen in Deutschland spiegelten eine in ganz Europa zu beobachtende Stimmungsänderung wider, die eine Erhöhung der Kreditaufnahme und der Ausgaben befürwortet, um den militärischen, energiepolitischen und nationalen Sicherheitsbelangen Europas gerecht zu werden.“ Dies dürfte Europas BIP-Wachstum gegenüber den USA in den kommenden 18 Monaten beschleunigen. Auf Wirtschaftswachstum folgen in der Regel steigende Unternehmensgewinne. Der Analystenkonsens rechnet für 2026 mit einem zweistelligen Gewinnwachstum für den europäischen Markt, während die Gewinnschätzungen für den S&P 500 auf 9 Prozent abgesunken sind. Demgegenüber ist der US-Index mit einem 2026er-KGV von 20 noch immer deutlich teurer bewertet als der STOXX Europe 600 mit 14. Auch die Dividendenrendite ist in Europa mit 3,2 Prozent gegenüber 1,4 Prozent in den USA höher. Doch so attraktiv das Umfeld in Europa auch ist: Die Gewinne europäischer Unternehmen hängen auch von globalen Faktoren ab. Weitere Handelskonflikte oder geopolitische Turbulenzen stellen daher klare Risiken dar. „Alle Aktienmärkte könnten auch durch einen weiteren starken Anstieg der globalen Staatsanleiherenditen gefährdet sein“, so der Experte weiter. „Die fiskalische Expansion in Europa, die Unfähigkeit der USA, ihre hohen Haushaltsdefizite einzudämmen, und die höchste Inflationsrate in Japan seit einer Generation üben weltweit Aufwärtsdruck auf die langfristigen Zinsen aus.“

Vorteil europäischer Binnenmarkt

Ein Stück weit eindämmen lässt sich dieses Risiko mit einem Fokus auf Unternehmen, die weniger stark vom internationalen Handel abhängen, sondern in erster Linie auf den europäischen Binnenmarkt ausgerichtet sind. Seit Jahresbeginn haben diese „Domestics“-Aktien die Exporteure des vergangenen Jahrzehnts weitgehend verdrängt. Enguerrand Artaz, Fondsmanager bei La Financière de l’Echiquier (LFDE), macht eine Kombination verschiedener Faktoren für die Veränderung der Vormachtstellung aus: „An erster Stelle steht natürlich Donald Trumps Politik der Handelszölle, die jedoch durch die anhaltende Schwäche des anderen wichtigen Absatzmarktes für europäische Exporteure – China – noch verstärkt wird.“ Darüber hinaus würden die exportierenden Unternehmen durch die Aufwertung des Euro seit Anfang 2025 belastet. „Die Einheitswährung ist gegenüber einem Währungskorb und gegenüber dem US-Dollar um fast 10 Prozent gestiegen“, rechnet Artaz vor, der eine Fortsetzung dieses Trends und einen Euro-Dollar-Kurs von etwa 1,20 für durchaus denkbar hält. „Diese Aufwertung des Euro benachteiligt automatisch die Exporteure, da sie die europäischen Produkte verteuert.“ Aber sie begünstige auch automatisch bestimmte inländische Unternehmen. „Dies gilt vor allem für diejenigen, die große Mengen an Rohstoffen importieren müssen, die auf den Weltmärkten in der Regel in US-Dollar gehandelt werden“, so der Fondsmanager. „Die Stärkung des Euro gegenüber dem US-Dollar erhöht also ihre Kaufkraft.“

Gute Wachstumsaussichten dank Rüstung

Nicht zuletzt verleihen die in den vergangenen Monaten angekündigten europäischen Investitionsvorhaben, wie der verteidigungspolitische „ReArm Europe“-Plan oder Deutschlands Infrastrukturpaket, Rückenwind. „Diese Investitionen werden dazu führen, dass das potentielle Wachstum, insbesondere in Deutschland, aber auch in der gesamten Euro-Zone, nach einem Jahrzehnt der anhaltenden Verschlechterung wieder zunimmt“, so Artaz. „In der Vergangenheit gab es stets eine starke Korrelation zwischen dem Rückgang des Potentialwachstums in der Euro-Zone und der unterdurchschnittlichen Performance inländischer Aktien im Vergleich zu Exporteuren.“ Konkrete Erfolge in Sachen Wachstum vermeldete jüngst die Rüstungsbranche: Das Umsatzwachstum der großen europäischen Player mit einer Marktkapitalisierung von über 10 Milliarden Dollar lag in den vergangenen zwölf Monaten bei durchschnittlich 22,2 Prozent, so Pierre Debru, Head of Research für Europa bei WisdomTree. Im Mai 2022 seien es noch 6,1 Prozent gewesen. Ein aufschlussreicher Vergleich: US-Rüstungskonzerne dieser Größe wuchsen nur um durchschnittlich 12,4 Prozent. Hinzu kommen prall gefüllte Auftragsbücher europäischer Rüstungskonzerne: „Die aktuellen Auftragsbestände dieser Unternehmen entsprechen nun fast 49 Monatsumsätzen, verglichen mit etwas über 30 Monaten im Frühjahr 2022“, so Debru. „Im Grunde haben die großen europäischen Anbieter bereits genug Aufträge gesichert, um ihre Produktionslinien bis zum Ende des Jahrzehnts und darüber hinaus auszulasten.“ Diese Entwicklung wird auch bei den Aktienkursen deutlich: So kletterte der Branchenindex MSCI Europe Aerospace & Defence seit Jahresbeginn um 60 Prozent, das US-Pendant lediglich um etwa 20 Prozent.

US-Markt nicht abschreiben

Insgesamt konnten Europas „Domestics“ die Exporteure in den ersten knapp fünf Monaten dieses Jahres bereits um rund 16 Prozent outperformen, gemessen am Goldman Sachs EU Domestics versus Internationals Basket. LFDE-Fondsmanager Artaz zeigt sich aber optimistisch, dass dieser Trend anhalten kann: „Sie werden immer noch mit einem erheblichen Bewertungsabschlag gegenüber den Exportwerten gehandelt, und dieser könnte sich allmählich verringern.“ Zudem könnten die europäische Deregulierung sowie die Änderung des Verbraucherverhaltens in Europa, wo die Nachfrage weiterhin unter dem Niveau vor Corona liege, weitere Katalysatoren sein. Positive Aussichten also für Europa. Und die USA? Sollten Investoren US-Aktien meiden? Klare Antwort: Nein! Schon gar nicht langfristig orientierte Investoren. „Mit US-Aktien hat man seit Jahresbeginn bislang weder gewonnen noch verloren“, räumt Chris Iggo, CIO Core Investments bei AXA Investment Managers, zwar ein. „Weltweit liegen die US-Märkte hinter anderen Ländern zurück.“ Aber könnte nicht genau darin die Chance liegen? Stichwort: Aufholpotential. US-Titel mögen noch immer teurer bewertet sein als europäische, „aber die Unternehmensgewinne sind hoch“, weiß Iggo. „Noch wird für dieses und nächstes Jahr ein zweistelliges Wachstum erwartet.“ Das gilt auch und gerade für die hart abgestraften Technologieaktien des Nasdaq 100. „Nvidia berichtete über 44 Milliarden US-Dollar Umsatz im ersten Quartal, deutlich mehr als von Analysten erwartet.“ Und auch der Gewinn je Aktie fiel gut 3 Prozent höher aus als prognostiziert. Besonders künstliche Intelligenz bleibe ein wichtiges Thema, an dem Investoren bei internationalen Aktien nicht vorbeikämen, so Iggo. Und in diesem Bereich spielen die USA weiterhin die dominante Rolle.

Zeit zum Aufstocken des US-Exposures?

Hinzu kommt, dass vor allem ausländische Investoren Wert auf Ausgewogenheit und Diversifikation legen. „Aufgrund der Bewertungen und anderer Makrorisiken mögen sie jetzt weniger in den USA investieren, aber vollständig meiden werden sie sie nicht.“ Dass europäische Titel in diesem Jahr bislang beeindruckende und ungewöhnlich hohe Mehrerträge gegenüber amerikanischen erzielten, erkennt der Experte an. „Doch so sehr man Europa schätzt und so sehr man die derzeitige US-Administration ablehnt – man muss schon sehr optimistisch sein, um weiterhin mit solchen Mehrerträgen rechnen zu können.“ Es ist eine sehr treffende Einschätzung Iggos, die sich auch während anderer Krisen immer wieder bestätigt hat: Den US-Markt darf man nicht abschreiben. Vielmehr sollten Investoren darüber nachdenken, ob sie den aktuellen Rückstand von US-Aktien nicht zum Einstieg bzw. zum Aufstocken nutzen. „Weltweit sind die Fundamentaldaten noch immer stabil, und irgendwann wird auch die US-Politik wieder konsensorientierter“, so sein insgesamt zuversichtlicher Blick auf die Aktienmärkte. „Mit ausgewogenen und diversifizierten Portfolios dürfte man auch weiter langfristige Erträge erzielen und das Vermögen steigern können.“ Technologieaktien aus den USA schließt er da ausdrücklich mit ein. Aktieninvestoren sind damit in einer angenehmen Ausgangslage: Europa steht so gut da wie lange nicht, und die USA haben Aufholpotential. Ein gutes Umfeld für diversifizierte Aktienportfolios mit langfristigem Anlagehorizont. Die Volatilität sollte aber nicht unterschätzt werden.

Patrick Daum ist Chef vom Dienst bei dpn-online. Er berichtet über alle Themen rund um das institutionelle Asset Management.

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