Autor: Talha Khan, Politischer Volkswirt bei der Capital Group
Die Themen von Szenarioanalysen sind breit gefächert, vielfältig und komplex – und betreffen viele Asset-Klassen und Märkte. Oft sind viele unterschiedliche Entwicklungen denkbar. Neue Daten können erhebliche Auswirkungen auf die Reaktionen von Politik und Notenbanken haben und den Ausblick massiv verändern. Hinzu kommen Zweitrundeneffekte, die oft erst dann deutlich werden, wenn man die Lage aus allen Blickwinkeln betrachtet hat.
Szenarioanalysen schaffen hier einen einheitlichen Analyserahmen und helfen Analysten und Portfoliomanagern, mögliche Entwicklungen besser zu verstehen und somit bessere Entscheidungen zu treffen.
Lehren aus der internationalen Finanzkrise
Während der internationalen Finanzkrise wurde deutlich, dass einzelne Investmentteams unterschiedliche Perspektiven haben. Anleihenanalysten für strukturierte Produkte haben andere Schwerpunkte als Analysten für kleine Bankwerte.
Night Watch ist eine Plattform von Capital Group, auf der zahlreiche Kollegen unterschiedliche Meinungen zu verschiedenen Themen austauschen können. Im Rahmen von Night Watch werden unterschiedliche Szenarien und ihre möglichen Auswirkungen auf Finanzanlagen untersucht. Wenn sich das Investmentteam auf verschiedene Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf die Portfolios vorbereitet, kann es vorurteilsfrei handeln, ohne Confirmation Bias.
Wie Szenarioanalysen funktionieren
Bei Prognosen gibt es oft nur Schwarz oder Weiß. Szenarioanalysen beschreiben die Welt hingegen häufig mehrdimensional. Szenarien sind Geschichten über die Zukunft, entwickelt in einem strukturierten Prozess. Der Prozess unterstützt dabei, klassische Annahmen in Frage zu stellen und letztlich bessere Entscheidungen zu treffen. Dabei geht man bewusst schrittweise vor und hinterfragt die Ergebnisse oft über mehrere Monate, bis man sich sicher ist.
Szenarien sind ein Weg, die Unsicherheit über die Zukunft zum Ausgangspunkt einer tieferen Analyse zu machen. Letztlich ist Night Watch ein Konzept, mit dem sich auch extreme Entwicklungen abbilden lassen – und ihre Auswirkungen für Investoren.
Anwendung des Konzepts auf COVID-19
Night Watch hat die Krise aus verschiedenen Blickwinkeln analysiert. Dabei wurden die Auswirkungen auf Wirtschaft, Märkte und Gesundheit betrachtet, unter Beteiligung von Kollegen aus unterschiedlichen Investmentteams. Als Night Watch Ende 2019 von Kollegen in Asien erstmals vom Virus hörte, begann das Nachdenken über die Folgen. Anfang 2020 wurde klar, dass das Virus größere Auswirkungen auf die Märkte haben könnte als bislang vermutet. Im Februar 2020 beschloss Night Watch, sich auf zwei entscheidende Punkte zu konzentrieren: erstens die geld- und fiskalpolitische Reaktion, zweitens die Eindämmung der Pandemie.
Im März 2020 kamen weitere wichtige Faktoren hinzu: Impfstoffe und Therapien. Night Watch recherchierte alle Impfstoffe, die getestet wurden, analysierte die beteiligten Unternehmen mit ihren unterschiedlichen Ansätzen und machte sich ein Bild von den Therapieoptionen. Am Ende stand eine grobe Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit. Im März 2020 hielten wir es für sehr wahrscheinlich, dass im 4. Quartal 2020, spätestens aber im 1. Quartal 2021 Impfstoffe bereitstehen, und so kam es auch. Wann immer neue Zahlen vorlagen, konnte Night Watch schnell von einem Szenario zu einem anderen wechseln, rein datenorientiert. Dabei erstellt Night Watch jede Woche eine Tabelle, um in Echtzeit abzuschätzen, welche Szenarien am wahrscheinlichsten sind. Für COVID-19 wurde eine eigene Datenbank aufgebaut, um entscheiden zu können, in welchem Szenario man sich gerade befindet.
Szenarien für die Welt nach COVID-19: Was bedeuten sie für Investoren?
Auch wenn es weiterhin Unsicherheit über die weitere Entwicklung der Welt geben wird, hat Capital Group im Rahmen ihrer Analyse vier Szenarien entwickelt, die alle Auswirkungen für Investoren haben (siehe Abbildung). Dabei werden vor allem zwei wesentliche Unbekannte in Betracht gezogen: das Ausmaß der staatlichen Interventionen und der soziale Zusammenhalt.
In gewisser Weise hat COVID-19 Trends verstärkt, die es schon vorher gab, etwa den Aufstieg des E-Commerce und des Cloud-Computings. Der Abstieg mancher traditioneller Branchen hat sich beschleunigt. So hatte der klassische Einzelhandel auch schon vor Corona mit großen Problemen zu kämpfen. Die Pandemie hat aber auch manchen Branchen extrem geschadet, die vorher recht gut dastanden – Beispiele sind Reisen und Tourismus.
Sobald man wieder sicher reisen und auswärts essen kann, dürfte die Nachfrage hier rasch wieder deutlich steigen. Hinzu kommt der große Nachfragestau bei Dienstleistungen, die wir zurzeit vermissen. Die Lage ist damit ganz anders als nach der internationalen Finanzkrise. Damals gab es Banken, die am Abgrund standen, und eine straffere Fiskalpolitik. Die Geldpolitik hat nicht wirklich entschlossen reagiert und war keineswegs international koordiniert. Jetzt haben wir hingegen ein wirklich stabiles Bankensystem. Falls die Impfungen nach Plan verlaufen und ihre Wirksamkeit nicht durch neue Virusmutationen massiv beeinträchtigt wird, könnte sich die Nachfrage stark erholen.
Unternehmen, die die Krise überstehen und vielleicht sogar gestärkt aus ihr hervorgehen, können sehr interessante Anlagen sein. Die Analysten halten schon jetzt Ausschau nach Firmen, denen sie das zutrauen. Das gilt nicht nur für die USA, sondern für viele Länder weltweit.
Vier Szenarien für die Zukunft1)