Der Krieg in der Ukraine kann sich insbesondere über höhere Rohstoffpreise auch auf andere Länder neben Russland auswirken. Einige Emerging Markets könnten unter Druck geraten. Was sind die möglichen Folgen des Konflikts für Märkte und Konjunktur?

Autor: Martyn Hole, Investment Director für Aktien bei Capital Group

Russland ist der größte Gasexporteur und der zweitgrößte Lieferant von Rohöl und Erdölprodukten weltweit. Das Barrel Brent-Öl kostet heute erstmals seit 2014 über 100 US-Dollar.1 Darüber hinaus sind sowohl Russland als auch die Ukraine wichtige Exporteure für Nahrungsmittelrohstoffe. Auf sie entfallen 30 Prozent der Weizenexporte weltweit. Deshalb sind die Weizenpreise so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr. Außerdem ist Russland ein wichtiger Lieferant von Nickel, Palladium und Titan. Etwa ein Drittel des im Flugzeugbau benötigten Titans kommt aus Russland.

Ein Blick auf die Struktur des MSCI EM IMI zeigt, dass in dem Index vor allem Ölimporteure wie China, Taiwan, Südkorea und Indien vertreten sind.

Viele im MSCI EM enthaltene Länder sind Nettoölimporteure

Viele im MSCI EM enthaltene Länder sind Nettoölimporteure

Stand der Daten: 28. Februar 2022 und 31. Dezember 2020 (für Nettoölimporteure/-exporteure). Quelle: Bloomberg, EIA, IMF WEO, MSCI

Wirtschaftliche Folgen höherer Rohstoffpreise

Die meisten Länder im MSCI EM IMI sind also Nettoimporteure von Rohstoffen. Ein anhaltender Anstieg der Rohstoffpreise kann Folgen haben – für die Wachstumsaussichten eines Landes, die Inflation und gegebenenfalls auch für die Außenbilanzen und Haushaltssalden.

  1. Wirtschaftswachstum: Höhere Rohstoffpreise haben sowohl Auswirkungen auf die Nachfrage als auch auf das Angebot. Mit den erhöhten Rohstoffpreisen steigen die Produktionskosten, sodass das Angebot zurückgeht. Zugleich können sie auch die Nachfrage belasten, weil die verfügbaren Einkommen der Verbraucher sinken. Wenn der Ölpreis je Barrel um 10 US-Dollar steigt, geht das BIP-Wachstum um 0,1 bis 0,6 Prozentpunkte zurück.2 Länder wie Singapur, Taiwan, Hongkong und Thailand, die selbst kein Öl fördern, sind davon am stärksten betroffen. Nettoimporteure von Öl profitieren dagegen von steigenden Preisen, weil sie für ihre Exporte mehr einnehmen. Weil die Ölpreise in ölproduzierenden Ländern meist stark vom Staat subventioniert werden, hat ein Anstieg der internationalen Ölpreise nur wenig Auswirkungen auf Angebot und Nachfrage im Inland.
  2. Inflation: Die Auswirkungen auf die Inflation hängen vom Anteil der Rohstoffe am Warenkorb ab. In Indien haben beispielsweise Nahrungsmittel und Energie einen Anteil von 50 Prozent am inflationsrelevanten Warenkorb. Ein Preisanstieg hätte hier erhebliche Auswirkungen. Auch in Thailand, den Philippinen und Malaysia ist der Rohstoffanteil am Warenkorb hoch.3 Ein weiterer Faktor sind staatliche Regulierungen der Treibstoffpreise. Viele wichtige Ölexporteure wie Saudi-Arabien und Kuwait subventionieren oder regulieren die Treibstoffpreise, sodass ein Preisanstieg nicht vollständig auf die Verbraucherpreisinflation durchschlägt.
  3. Haushaltssalden: Für rohstoffimportierende Länder kann ein Preisanstieg zu einer Verschlechterung der Haushaltssalden führen, wenn ihre Regierungen Rohstoffe subventionieren. Das ist in Südkorea und Indonesien der Fall. Die Haushaltssalden von Rohstoffexporteuren profitieren dagegen von steigenden Preisen. In vielen rohstoffexportierenden Emerging Markets sind die Break-Even-Preise für Öl deutlich niedriger als der aktuelle Preis. Mexiko benötigt für den Break-Even beispielsweise nur einen Ölpreis von unter 50 US-Dollar, während der Preis für Saudi-Arabien bei fast 80 US-Dollar liegen muss.4
  4. Leistungsbilanzsalden: Wegen der besseren Terms of Trade dürften sich die Leistungsbilanzen von Rohstoffexporteuren verbessern. Russland, Chile, Malaysia, Südafrika und Brasilien profitieren am meisten von höheren Rohstoffpreisen – abhängig von der Art des Rohstoffs, den sie exportieren.

Preisanstiege aufgrund eines nachlassenden Angebots, wie wir sie zurzeit sehen, sind üblicherweise ungünstig für rohstoffimportierende Emerging Markets – das liegt an den Terms of Trade, am schwächeren Wachstum und an möglichen Verschlechterungen der Haushaltssalden und Außenbilanzen. Sie haben aber nur dann Einfluss auf die Emerging-Markets-Aktienmärkte, wenn die Finanzierung eines oder beider Defizite ein Problem darstellt. Die meisten Emerging Markets sind zurzeit in einer recht guten Verfassung, sodass eine kleinere Verschlechterung des Haushalts- beziehungsweise Außenbilanzsaldos keine gravierenden Folgen für ihre Aktienmärkte haben dürfte.

Erträge von Emerging-Markets-Aktien in Szenarien mit hohem/niedrigem Wachstum und hoher/niedriger Inflation

Durchschnittliche Monatserträge des MSCI EM IMI in den vergangenen 33 Jahren:

Erträge von Emerging-Markets-Aktien in Szenarien mit hohem/niedrigem Wachstum und hoher/niedriger Inflation

Stand der Daten: 28. Februar 2022. Quelle: Bloomberg

Investieren, auch unabhängig vom Konjunkturzyklus

Beim Wachstum und der Inflation sieht das anders aus. Dem Weltwirtschaftswachstum ist der US-PMI als Näherungswert zugrunde gelegt. Der betrachtete Zeitraum wird in Phasen mit stärkerem/schwächerem Wachstum und höherer/niedrigerer US-Verbraucherpreisinflation (Inflation zum Vorjahr steigend/fallend auf Basis von Monatsdaten) unterteilt. Die Abbildung oben zeigt, dass der Wert von Emerging-Markets-Aktien in Phasen mit starkem Wachstum meist gestiegen ist. Die Inflation war hier weniger wichtig. In Phasen mit sehr hoher Inflation, wie in den 1970er-Jahren, ließ das Wachstum merklich nach. Es kam zu Kapitalverlusten und Aktien erzielten niedrige Erträge. Jedoch haben Emerging-Markets-Aktien in allen vier Phasen Erträge erzielt. Deshalb ist es wichtig, unabhängig vom Konjunkturzyklus investiert zu bleiben.

Steigende Rohstoffpreise mögen für einige Emerging Markets ein Problem sein. Man sollte aber immer die langfristigen Chancen von Emerging-Markets-Aktien im Blick haben. Denn 60 Prozent des Weltwirtschaftswachstums entfallen auf die Emerging Markets. Dieser Anteil dürfte weiter steigen, weil in den Ländern, die zu Emerging Markets zählen, die Bevölkerung jünger ist und viele Menschen in Städte ziehen. Zugleich sind Inflation und Staatsverschuldung handhabbar und die Corporate Governance verbessert sich. Im Vergleich zu Industrieländerwerten sind Emerging-Markets-Aktien so günstig wie selten zuvor. Die Asset-Klasse dürfte weiter von sinkenden Risikoprämien profitieren.

 

1 Quelle: Bloomberg, Stand 28. Februar 2022
2 Quelle: Barclays Research, Stand 25. Februar 2022
3 Quelle für Inflationsgewichte: nationale Statistikämter
4 Quelle: Barclays Research, Stand 25. Februar 2022

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